Tagblatt vom 28.4.2001, Aktualität

Das rasante Spiel

Faszination Eishockey/ Von Werner Wunderlich

Alles hatte ganz harmlos angefangen. Geduckt hatten sie einander in einem Kreis belauert, den Blick gebannt auf eine kleine, schwarze Scheibe vor sich gerichtet. Urplötzlich waren sie dann hintereinander auf der Eisfläche hergerannt, bis ein gekrümmter Stab des einen den kühnen Lauf des anderen jählings gehemmt. Verhakt ineinander in possierlicher Pirouette streckte einer sein Bein graziös nach hinten. Der andere spagatete schwerelos nach vorn, die Wange ans Knie gelegt. Dann knallten die Leiber hart aufs Eis. «Nur aus vollendeter Kraft blicket die Anmut hervor. Fallen ist der Sterblichen Los.» Etwas drastischer als mit Goethes elegischer Eislaufpoesie lässt sich dieser Pas de deux als Fauxpas mit Oskar Pastiors Lyrik kommentieren: «beispielloser schleifer paarung / haarscharf nah - holzhackerboom.» Werden die Darsteller mit Haken (und Ösen) auf Eis gelegt, befinden wir uns beim Eishockey.
Als Ausdruck von Ästhetik und Daseinsmetapher lösten die «kreisenden Bahnen des Lebens», von Schlittschuhen schwungvoll ins Eis gezirkelt, seit Empfindsamkeit und Romantik poetisches Entzücken und lebhafte Begeisterung aus. Als Reiz aufzuspüren auch heute noch in der rasantesten und strapaziösesten Sparte, die der Eissport zu bieten hat.

Zeitgemässes Gladiatoren-Event

Eishockey: Tempo und Kampf, intelligente Spielzüge und technische Finessen, schnell wechselnde Szenen und spannungsgeladene Aktionen. Spektakel: Funkensprühendes Wunderkerzenfluidum und grelles Showgetöse schlagen schrille Fan-Girlies und versierte Experten im Bier- und Bratwurstdunst sogar abgewrackter Eisbuden in den Bann einer mitreissenden Inszenierung. Dumpf johlende soziale Randgruppen in Stadionkurven, brutal knüppelnde Rabauken in der Arena - das Image auch dieses Spiels hat sich als zeitgemässes Gladiatoren-Event ein wenig von seiner durchaus kultivierten, ja sogar elitären Sportlichkeit entfernt. Nicht, dass jene olympischen Zeiten beschworen werden sollen, als sich im magyarischen Nationalteam lauter Grafen und Graduierte tummelten. Einst entdeckt von empfindsamer Hingabe an Natürlichkeit, war die Eisfläche eigentlich kein soziales Parkett für Standesunterschiede. Wohl aber eine Plattform, wo Begabung und Können, Intelligenz und Fairness Spieler wie Gustav Jaenecke, Bibi Torriani, Tumba Johansson oder Anatoli Firsow formten und zu höchst erfolgreichen Cracks auch auf geschäftlichem oder politischem Glatteis werden liessen. Oder ein Multitalent wie den legendären Jaroslav Drobny förderten, der den Schläger wechselte und Wimbledon gewann. Das freilich war 1954. Und heute? Prolog: In der Kabine ist die Atmosphäre aufgeladen. Kampfstimmung. Gut eine halbe Stunde braucht ein Spieler, um sich mit mittelalterlicher Montur zu wappnen: harte Schalen für die weichen Teile, Schienen, Panzer, Stiefel mit messerscharfen Kufen. Der Trainer hebt noch einmal beschwörend die Stimme. Und dann - Helm auf, Visier runter. Ungeschlacht stapfen die Eisrecken bewehrt mit beängstigenden Stöcken hinaus. Längst sind es nur noch wenige «blühende deutsche Jünglinge», wie sie Novalis' Enthusiasmus für den Eislauf preist, die sich hierzulande unter Laserblitzen zu hämmernder Musik in den kreiselnden Rhythmus beim Einlaufen stürzen, sich zur magischen Zeremonie ums Tor und seinen Hüter scharen, eher dumpfe Rufe ausstossend denn heitere Lieder singend. Englisch prägt das kommunikative Kauderwelsch der bunt zusammengewürfelten Kufenlegionäre. Dem Wir-Gefühl der Fans tuts keinen Abbruch, solange der Söldnertruppe vom Coach das Siegen gelehrt wird. Eine echte Herausforderung, wenn die Erklärung differenzierter Taktik und diffiziler Spielzüge sich eher schlichter sprachlicher Standards bedienen muss.

Sprechchöre und Spottgesänge

Erster Akt: Die Eisfläche ist in gleissendes Licht getaucht. Die Heimmannschaft wirbelt und lässt den Gegner schlecht aussehen. Händeklatschen und ohrenbetäubende Tröten feuern an, witzige Sprechchöre oder auch Spottgesänge beleidigenden Inhalts kommentieren die Szene. «Leichteren Schwungs fliegt er hin, kreiset umher, schöner zu sehen ...» Klopstocks hymnische Begeisterung für elegante Schlittschuhläufer teilt eine eher volkstümliche Prosa auf den Rängen: «Der Joe, der kurvt mit Hornissen im Arsch. Total klasse!» Eishockey kann von mitreissender Eleganz sein. Wenn Stürmer scheinbar schwerelos im Stakkato verwirrender Schrittfolgen beschleunigen und sich blindlings mit blitzschnellen Pässen bedienen. Wenn Verteidiger im Stile von Kunstläufern abrupt den Rückwärtsgang einlegen, kleine Gischwolken mit schleifenden Kufen aufstieben lassen, einen anstürmenden Hünen mit artistischem Bodycheck von den Beinen holen und im Salto über ihren Rücken wirbeln lassen.

Mit Tempo 200 ins Netz

Zweiter Akt: Zu Beginn des Mitteldrittels waren die Einheimischen in Rückstand geraten. Nun fegt einer ihrer Hauptdarsteller geduckt über das Eisparkett. Ein Rammbock auf Kufen. Aus vollem Lauf drischt er mit seiner Stockschaufel auf den kleinen schwarzen Rundling, den er vor sich hergetrieben hatte. Ein klobiges Ungeheuer mit vergitterter Fratze macht eine hilflose Bewegung. Seine klodeckelgrosse Flosse grapscht ins Leere. Über die Fanghand des Goalie hinweg zischt der Puck mit Tempo 200 ins Netz. Ausgleich. Mit Sägebewegungen voll tiefer Rätselhaftigkeit und angezogenem Knie kurvt der Schütze jubelnd um das Gehäuse herum. Schaut her, ich bins! Im Freudentaumel führt sein Team einen Veitstanz auf. Triumphgefühl durchströmt auch die Zuschauer. Vorbeter stossen heisere Laute aus, die Gläubigen fallen in die Gesänge ein, und die Eisheiligen geniessen die Ovationen.

Erhitzte Gemüter und Prügel

Dritter Akt: Die Einheimischen sind nun doch auf der Verliererstrasse unterwegs. Wie der Seufzer in Morgensterns Schlittschuhgedicht läuft nun das Lamento auf blinkendem Eis. Starrsinnige Einzelaktionen und blindwütiges Anstürmen können das Blatt nicht wenden. Die strengen Regeln haben in der Hektik die aufgestauten Emotionen nicht mehr unter Kontrolle. Nachlassende Konzentration, ermüdende Anstrengungen, wachsender Frust steigern die Aggressionen. Getümmel vor dem gegnerischen Tor. Einer seiner überseeischen Verteidiger sackt plötzlich zusammen. Ein kanadischer Landsmann hat ihn mit einem gezielten Stockhieb gefällt. Zwischenspiel: Die Codes der Gewalttätigkeit werden ausgetauscht. Befreit von sozialen Kontrollen stürmen sämtliche Akteure aufs eisige Blachfeld. Sich auf Schlittschuhen zu verdreschen, verlangt akrobatisches Stehvermögen. Es eignet nicht allen grotesk verrenkten Raufbolden. Die rüpelhafte Keilerei ist Teil absurder Dramaturgie: «Jeder zeigt her, was er vermag; nicht Lob und nicht Tadel hielte diesen zurück ...» Ach, Goethe. Haben sich die erhitzten Gemüter wieder abgekühlt, macht sich ernüchternde Einsicht breit: Prügel verleihen keinen neuen Schwung, und durch Strafen reduzierte Teams können sich nicht gegen Überlegenheit durchsetzen. Am Ende behalten die von den Gästen mitgebrachten Amerikaner, Kanadier, Russen, Tschechen, Slowaken, Finnen das bessere Ende für sich.

Beginn derWM

So wie das sicherlich auch bei der Weltmeisterschaft wieder der Fall sein wird. Dann freilich überwiegend in Form der Nationalmannschaften. Denn dass Schweizer oder gar Deutsche auf dem Eis spielerisch den Ton angeben, dürfte ein Wunschtraum bleiben. Selbst wenn inzwischen in einem deutschen Team Akteure mit so schönen deutschen Namen wie McKay oder Soccio mitmischen. Aber eigentlich macht das auch gar nichts; denn auch in diesem Jahr ist die Bezeichnung «Weltmeisterschaft» für das Eishockey-Turnier, das diesmal in Deutschland stattfindet, rhetorisch eher eine Beschönigung. Weltmeisterlich ist allenfalls das «Marketing-Event». Viele der besten Spieler der Welt sind noch in den «Playoffs» der nordamerikanischen Profiliga zugange. Und einige der Nationalteams, die ab heute in den Arenen aufeinander treffen, würden von den Legionärstruppen der Spitzenclubs ihrer heimischen Ligen vermutlich in Grund und Boden gespielt. Wer in der letzten Woche die «München Barons» gegen die «Mannheimer Adler» um die Meisterschaft der Deutschen Eishockey-Liga spielen sah, wird einer deutschen Nationalmannschaft gegen diese bunt zusammengekauften Zweckgemeinschaften kaum eine Siegeschance einräumen. Und die bescheidene Spielstärke der Deutschen, Deutschkanadier, Deutschamerikaner und Deutschrussen wird sich wohl schon gegen die von Ralph Krueger so intelligent betreuten Schweizer die erste Niederlage einhandeln.

Unser Autor Werner Wunderlich ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität St. Gallen. Einst spielte er selbst Eishockey, auf der Position des linken Verteidigers beim Mannheimer EHC in der deutschen Bundesliga.

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